Wie ist die Situation im Irak und in der Region, in der du tätig bist?
In der irakischen Region Al-Anbar hinterließ der Konflikt mit dem Islamischen Staat tiefe Spuren: Familien wurden ausgelöscht, die Häuser zerstört und die Menschen vertrieben. Seit 2018 herrscht hier wieder Frieden und die Familien kehren allmählich in ihre Heimatdörfer zurück, wo sie ihr Haus oft zerstört oder vermint vorfinden. Einige Familien werden der Mittäterschaft mit den ehemaligen Besatzern beschuldigt, so dass sie nicht nach Hause zurückkehren können. Die öffentlichen Dienste des irakischen Staats werden nach und nach wieder aufgebaut, aber Sicherheit, Bildung und Gesundheit sind immer noch sehr rudimentär.
Welchen Bedarf gibt es und wie lautet die Antwort von Ärzte ohne Grenzen?
Im Zentrum der Tätigkeit von Ärzte ohne Grenzen steht die Gesundheitsversorgung von Vertriebenen. Wir können bestenfalls versuchen, temporäre Defizite im Gesundheitssystem auszugleichen. In unseren Zentren in den Flüchtlingscamps bieten wir allgemeinmedizinische Sprechstunden, Betreuung bei Langzeiterkrankungen, Wundverbände und psychologische Einzelberatungen an. Wir sind flexibel, um neue Bedürfnisse beantworten zu können, z. B. die Begleitung der Menschen, die in ihre Dörfer zurückkehren, mit mobilen Kliniken. Ärzte ohne Grenzen hat ferner Behandlungsmöglichkeiten für Kriegsverletzte eingerichtet, die Rehabilitation und wiederherstellende Chirurgie umfassen.
Was ist deine Rolle vor Ort und vor welchen Herausforderungen stehst du im Alltag?
Meine Hauptaufgabe vor Ort besteht in der Schulung und Betreuung der Ärzte und Krankenpfleger im Team von Ärzte ohne Grenzen. Die irakischen Ärzte, mit denen wir arbeiten, sind jung und dynamisch, aber ihre Ausbildung war aufgrund des Krieges oft nur kurz. Ärzte ohne Grenzen legt großen Wert auf die Qualität der medizinischen Versorgung, was in diesem Kontext nicht einfach ist. Das Wüstenklima, die traditionelle Kultur und der Mangel an Medikamenten sind Beispiele, die die Qualität der Versorgung beeinträchtigen. Für einen männlichen Arzt ist es zum Beispiel schwierig, eine Frau zu untersuchen, selbst um sie nur abzuhorchen! Und Ärztinnen sind immer noch selten...
Was motiviert dich Tag für Tag?
Das Leben der Familien in den Flüchtlingscamps ist einfach unerträglich. Es gibt keinen Grund, der rechtfertigt, dass diese Kinder in einem Zelt leben müssen und einen begrenzten Zugang zu Schule und Nahrung haben. Ärzte ohne Grenzen gelingt es, den bedürftigsten Familien im Bereich der Gesundheit zu helfen. Dies trägt dazu bei, soziale Gerechtigkeit ein wenig wiederherzustellen, die durch die aufeinanderfolgenden Kriege so lange verloren ging. Die gemischten Teams (mit internationalen Mitarbeitern wie mir und Irakern) sind eine stimulierende Mischung, um die notwendigste medizinische Versorgung der Patienten zu erreichen. Die Bündelung der Kräfte aller ist eine moderne Art, um Fortschritte zu machen. Die Organisation von Ärzte ohne Grenzen und die Diskussionen, die wir intern führen, fördern die Innovation, so dass ein sehr positives Arbeitsumfeld entsteht.
Möchtest du ein persönliches Erlebnis mit uns teilen?
Es gibt so viele! Als ich ankam, wurde ich von meinen irakischen Kollegen sehr freundlich aufgenommen. Das ist arabische Gastfreundschaft! Es ging so weit, dass sie mir einen lokalen Stammesnamen gaben! Für sie reicht es nicht, einen Vornamen und einen Familiennamen zu haben. Um vollständig zu sein, musste ich unbedingt auch einem Stamm angehören. Ich musste ihnen auch erklären, dass die Europäer nur mit einer einzigen Frau gleichzeitig verheiratet sein können. Anfangs waren sie mit meiner Antwort zufrieden, aber schon bald sagten sie mir, dass ich mich schon anstrengen könnte, um mich an ihre Kultur anzupassen.
Titelfoto: Ramadi ist die Hauptstadt der Provinz Anbar. Es wird geschätzt, dass 80% der Stadt durch die erbitterten Kämpfe der letzten Jahre zerstört wurden. Dezember 2017. © Florian SERIEX/MSF