Nach Schätzungen sind mehr als 4.000 Flüchtlinge in Serbien gestrandet als Folge der Grenzschließungen gemäß dem Türkei-Deal der EU im März 2016. Verheerende Lebensbedingungen und Verzweiflung lassen vielen von ihnen keine andere Möglichkeit, als den Versuch zu wagen, die Grenzen nach Europa zu überwinden und die ernsthaften Folgen in Kauf zu nehmen: Gewalt durch Polizei und Grenzbewachung und die wiederholte Zurückweisung.
Im Juli unterstützte Marion Nourisson, Kommunikationsbeauftragte von MSF Luxemburg, die MSF-Mission in Serbien, um Informationen zu sammeln und auf die Gewalt in Grenzregionen und auf die Situation der unbegleiteten Minderjährigen in Serbien aufmerksam zu machen.
Kannst Du den Kontext der Flüchtlingskrise in Serbien erläutern?
Die Situation in Serbien scheint eingefroren. Die Tage vergehen und Tausende von Flüchtlingen sind im Land blockiert ohne jegliche legale Alternativen und keiner anderen Möglichkeit, als zu versuchen, die Grenzen illegal zu überqueren. Momentan befinden sich etwa 2.500 offiziell registrierte Kinder in den Flüchtlingscamps in Serbien und fast 1.400 sind unbegleitet oder von ihren Eltern getrennt.
In den ersten sechs Monaten des Jahres 2017 ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Gewalt erlitten haben, auf 69% gestiegen, 57% davon erlitten physische Verletzungen.
In den ersten sechs Monaten des Jahres 2017 ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Gewalt erlitten haben, auf 69% gestiegen, 57% davon erlitten physische Verletzungen. Viele von ihnen leben in Wäldern - dem sogenannten „Dschungel“ - oder schlafen in verlassenen Lagerhallen. Oft haben sie ihre Eltern in ihren Heimatländern verloren oder wurden auf der Reise von ihnen getrennt.
Von der Türkei Richtung Italien nennen die Flüchtlinge ihre Versuche, die Grenzen zu überqueren „Spiele“, ein scheinbar harmloser, spielerischer Name für ein verzweifeltes Vor und Zurück, wenn sie immer wieder versuchen, die Grenzen zu überqueren und zurückgestoßen werden. Dieses „Spiel“ fordert einen hohen Einsatz: Sie werden ausgeraubt, von der Polizei geschlagen, gedemütigt, von Hunden angefallen oder in geschlossene Camps gebracht. 92% der entsprechenden Verletzungen, die in den MSF-Kliniken in Serbien behandelt werden, wurden von Mitarbeitern der staatlichen Behörden der Europäischen Union in Bulgarien, Ungarn und Kroatien verursacht.
Dieses „Spiel“ fordert einen hohen Einsatz.
Es ist schockierend und bricht einem das Herz, wenn man Menschen sieht, die an unseren eigenen Europäischen Grenzen so schlecht behandelt und gedemütigt werden.
Wie unterstützt MSF die Flüchtlinge und Migranten, die in Serbien gestrandet sind?
In Serbien arbeitet MSF vor allem außerhalb der offiziellen Flüchtlingscamps, im so genannten „Dschungel“. Wir unterstützen Migranten und Flüchtlinge, die in prekären und unwürdigen Konditionen leben, ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung. Die MSF-Klinik in Belgrad bietet medizinische und psychologische Gesundheitsversorgung wie auch Untersuchungen des dermatologischen Zustands aufgrund ungesunder Lebensbedingungen und eingeschränktem Zugang zur hygienischen Grundversorgung. MSF bietet auch medizinische und psychologische Versorgung durch mobile Kliniken in Subotica, an der Grenze nach Ungarn und in Sid, an der kroatischen Grenze.
LuxOR, die operative Forschungseinheit von MSF in Luxemburg arbeitet Hand in Hand mit der Mission in Serbien, um diesen unbeständigen operativen Kontext, der sich ständig verändert, aufzunehmen und zu analysieren.
Was ist das Ziel deiner Mission in Serbien?
Ich bin nach Serbien gekommen, um die Arbeit des Lobbyteams zu unterstützen mit dem Erstellen eines Dokumentarfilms, dem Sammeln von Zeugnisberichten und mit Beiträgen zu einem Bericht über die Gewalt in Grenzregionen und an unbegleiteten Minderjährigen.
Ich habe diverse Interviews mit Flüchtlingen geführt, vor allem mit Minderjährigen aus Afghanistan und Pakistan. Sie bilden die größte Gruppe, die außerhalb der Camps lebt. Mit ihnen zu sprechen, hat mir geholfen, ihre Situation besser zu verstehen, ihre Lebensbedingungen wahrzunehmen und die Gewalt, der sie regelmäßig ausgesetzt sind. Für mich war dieser Schritt entscheidend, um ihre Situation besser einordnen zu können.
Die Flüchtlinge in Serbien hat man meist vergessen. Die meiste Aufmerksamkeit konzentriert sich im Moment auf die Flüchtlingskrise im Mittelmeergebiet; ihre Situation hier und die Gewalt an den Grenzen in der Balkanregion verschlechtert sich stillschweigend. Es ist wichtig, die Menschen in Europa wissen zu lassen, was vor ihrer Haustür passiert.
Worin bestanden die Herausforderungen in der Arbeit mit jungen Migranten und Flüchtlingen?
Am Anfang habe ich mich sehr unwohl gefühlt, wenn ich den Flüchtlingen persönliche Fragen gestellt habe. Wenn man Menschen ermutigt, ihre traumatischen Geschichten zu erzählen, muss man sicherstellen, dass sie nicht zu verletzlich sind und sich sicher fühlen. Es ist schwierig, Vertrauen herzustellen, wenn Sie gerade erst angekommen sind und jemanden kennenlernen, der eine Menge durchgemacht hat.
Es ist schwierig, Vertrauen herzustellen, wenn Sie gerade erst angekommen sind und jemanden kennenlernen, der eine Menge durchgemacht hat.
In der dritten Woche haben wir eine mobile Klinik mit einem Kameramann nach Subotica begleitet. Da wurde mir dann erst wirklich bewusst, wie viele Minderjährige unter den Flüchtlingen sind, denen wir helfen. Das Ziel war, einige ihrer Zeugnisberichte für den Film aufzunehmen. Dafür mussten wir uns etwas einfallen lassen, denn wir wollten dabei nicht die Gesichter der Minderjährigen zeigen. Wir haben uns dann darauf geeinigt, ihre Stimmen aufzunehmen, und nur ihre Hände, ihre Füße und ihre Rücken zu filmen.
Die unbeständige Umgebung hat uns die Arbeit erschwert. Asylsuchende und Flüchtlinge versuchen ständig, die Grenzen zu überqueren und sind dauernd unterwegs von einem Ort zum nächsten. Es ist fast unmöglich, Interviews im Voraus zu planen, und wir mussten sehr spontan sein.
Gab es besonders eindrückliche Begegnungen?
Jeder, dem ich begegnet bin, hatte eine bewegende Geschichte. Ich erinnere mich an einen stillen16-jährigen afghanischen Flüchtling. Er stand abseits in einem Raum und beobachtete schüchtern andere Flüchtlinge beim Tischtennis spielen. Wir haben uns eine Stunde unterhalten darüber, wo er herkam und was er auf seinem Weg durch Europa erlebt hatte.
Jeder, dem ich begegnet bin, hatte eine bewegende Geschichte.
In der Woche darauf traf ich ihn mit seinem Cousin in der Nähe der MSF-Klinik, wir haben uns hingesetzt und noch einmal geredet. Da hat er mir erzählt, er habe seinen Vater auf dem Weg nach Europa verloren, der sei nun in Kopenhagen. Das war der Grund, weshalb er immer und immer wieder versuchte, die Grenze zu überqueren trotz des Risikos und der Gewalt.
Als wir seine Geschichte aufnahmen, fragte ich ihn, ob er Angst habe:
„Angst vor was?“ fragte er zurück. „Alles ist ein Horror, wenn du klein und minderjährig bist und keiner da ist, der sich um dich kümmert. Den Vater auf der Flucht verlieren... Sie können sich vorstellen, wie hart das ist.“
Ich weiß, dass es mehrere Jahre dauern kann, um Familien wieder zusammen zu führen und dass wir nichts tun konnten, um das sofort zu ändern. Meine Hoffnung liegt nun darin, dass die Aufnahmen der Stimmen der Verwundbarsten in Serbien helfen können, um in Europa Bewusstsein dafür zu schaffen und weitere Unterstützung zu bekommen.
Das Bericht
«Games of Violence»
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