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Syrien

Menschen in Idlib müssen besonders vor Coronavirus-Pandemie geschützt werden

Die mobile Klinik von MSF in einem Vertriebenenlager im Nordwesten von Syrien. März 2020. © OMAR HAJ KADOUR/MSF
Augenzeugenberichte 
Cristian Reynders - Projektkoordinator in Nordwestsyrien
Unser Einsatzkoordinator Cristian Reynders gibt einen Überblick über seine Erfahrungen aus der Region Idlib.

    „Es ist noch nicht lange her, da bestimmten andere Themen die Nachrichten, als COVID-19. Einige betrafen die humanitäre Situation in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. In industrialisierten Ländern wie Italien, Spanien und den USA sehen wir, dass öffentliche Krankenhäuser wegen der Verbreitung von COVID-19 am Rande des Zusammenbruchs stehen. Wie wird also das Gesundheitssystem der Region Idlib damit zurechtkommen? Das Gesundheitswesen stieß bereits vor der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus an seine Grenzen.

    Auch wenn sich COVID-19 im Nordwesten Syriens noch nicht verbreitet hat, stehen die Menschen bereits jetzt vor einer Reihe unbeantworteter Fragen und unmöglicher Entscheidungen. Tatsächlich können die meisten Empfehlungen zum Schutz der Menschen vor dem Coronavirus in Idlib einfach nicht umgesetzt werden.

    Wie kann man Menschen bitten, zu Hause zu bleiben, um eine Infektion zu vermeiden? Wo ist überhaupt ihr Zuhause? Wir sprechen von fast einer Million Vertriebener - mindestens ein Drittel der Gesamtbevölkerung von Idlib – wovon die meisten in Zelten in Geflüchtetenlagern leben. Sie haben kein Zuhause mehr. Wenn eine Person Symptome von COVID-19 zeigt, wird sie gebeten, sich selbst zu isolieren. Wo ist der Platz dafür in Idlib? Viele Familien müssen ihre Zelte mit anderen Familien teilen.

    Die Menschen werden auch dazu aufgefordert, Hygienemaßnahmen zu ergreifen und sich häufig die Hände zu waschen. Aber wie kann man sich hygienisch verhalten, wenn man inmitten von Dreck lebt?

    Wenn man ernsthafte Symptome entwickelt, soll man in ein Krankenhaus gehen. Aber wenn nur eine Handvoll Krankenhäuser geöffnet sind und diese Krankenhäuser bereits überlastet und für eine Pandemie völlig unvorbereitet sind, wo sollen die Menschen dann hingehen?

    Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus in Nordwest-Syrien

    Bei der Vorbereitung auf eine mögliche Verbreitung von COVID-19 im Nordwesten Syriens stehen auch die Mediziner*innen vor schwierigen Entscheidungen. Sie müssen ständig Prioritäten setzen: Wie sollen sie beispielsweise mit all den Patient*innen umgehen, die behandelt werden wollen? Das medizinische Personal in Idlib tut mit seinen wenigen verfügbaren Mitteln sein Bestes. Ich werde mich mein Leben lang an die Widerstandsfähigkeit und das Engagement des Personals unter diesen extremen Bedingungen erinnern.

    Die Lage im Nordwesten Syriens ist bereits eine humanitäre Notlage. Eine zusätzliche öffentliche Gesundheitskrise könnte schnell katastrophal enden.
    Cristian Reynders, Projektkoordinator in Nordwestsyrien

    Auch humanitäre Organisationen müssen unter diesen Umständen unmögliche Entscheidungen treffen. Welche Maßnahmen sollen wir ergreifen, um eine mögliche Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern? Sollen wir unsere Arbeit in den Camps einstellen, um zu verhindern, dass sich Menschen vor unseren mobilen Kliniken oder bei der Verteilung von lebenswichtigen Hilfsmitteln versammeln? Würden wir die Menschen so schützen oder ihre Gesundheit gefährden, indem wir ihnen die einzig verfügbare medizinische Versorgung entziehen? Mit dieser Art von Dilemmata sind die Menschen in unseren Einsätzen ständig konfrontiert.

    Die Entscheidung, die wir getroffen haben, ist weiterzumachen. Denn wir wissen, dass unsere Hilfe für Zehntausende von Menschen in ganz Idlib lebenswichtig ist. Beispielsweise leiden mehr als 35 Prozent der Patient*innen, die wir in unseren mobilen Kliniken behandeln, bereits an Atemwegsinfektionen. Eine Infektion mit dem Coronavirus kann somit schnell zu Komplikationen führen. Wir werden also nicht aufhören zu helfen. Doch im Angesicht der Coronavirus-Pandemie müssen auch wir unsere Aktivitäten anpassen und verantwortungsvoll handeln.

    Nur Solidarität und Zusammenhalt werden im Kampf gegen das Coronavirus in Syrien helfen

    Wir setzen alles in Bewegung, was möglich ist, doch bei einer Ausbreitung von COVID-19 wird das wahrscheinlich nicht ausreichen. Die Lage im Nordwesten Syriens ist bereits eine humanitäre Notlage. Eine zusätzliche öffentliche Gesundheitskrise könnte schnell katastrophal enden. Es sei denn...

    ...es sei denn, es gibt eine sofortige internationale Mobilisierung. Es sei denn, es werden den Ärzt*innen und humanitären Organisationen die Mittel zur Verfügung gestellt, die sie benötigen, um diese potentielle Katastrophe richtig anzugehen, bevor sie sich ereignet. Es sei denn, die Krankenhäuser erhalten die notwendigen Vorräte und Schutzausrüstungen, um dieser zusätzlichen Krise entgegentreten zu können.

    Doch die Antwort auf diese Situation kann nicht nur eine medizinische sein. Die Gesundheitsversorgung ist natürlich besonders wichtig. Aber die Menschen in der Region Idlib brauchen auch immer noch Nahrungsmittel, Unterkünfte und sanitäre Anlagen. Wenn man einer Pandemie gegenübersteht, sind all diese Dinge von entscheidender Bedeutung.

    COVID-19 betrifft jeden Menschen auf dieser Welt. Ob die Menschen in Syrien oder in Italien leben, sie sind alle miteinander verbunden. Dieser Virus betrifft jeden, unabhängig von seiner Nationalität oder Hautfarbe. Und genau so wie dieses Virus keine Grenzen kennt, so hoffe ich, dass auch die Solidarität keine Grenzen kennt.“


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