Wie würden Sie diederzeitige Situation in Haiti beschreiben?
Beim N'ap Kenbé-Krankenhaus in Tabarre handelt es sich um einen Containerbau in Port-au-Prince, der 2011 nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 von MSF in Betrieb genommen wurde. Diese Katastrophe forderte mehr als 200 000 Menschenleben, darüber hinaus wurden 300 000 Menschen verletzt, 90 % der Schulen in Port-au-Prince, 60 % der Krankenhäuser und 60 % der öffentlichen Gebäude wurden zerstört und insgesamt 1,3 Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land.
Inzwischen ist wieder eine gewisse Normalität eingekehrt, Port-au-Prince ist eine von Menschen wimmelnde Drei-Millionen-Stadt, auch wenn die öffentlichen Gebäude noch nicht wiederaufgebaut wurden. Dennoch bleibt das Land von großer Armut, Gewalt, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit, der Abwanderung der intellektuellen Eliten (80 % der Hochschulabsolventen verlassen das Land) sowie prekären Lebensverhältnissen bei einem Großteil der Bevölkerung geprägt. Die Gesundheitseinrichtungen genügen den Anforderungen bei weitem nicht, die Krankenhäuser sind schlecht ausgestattet, die Mitarbeiter schlecht bezahlt und wenig motiviert. Die einzigen Ausnahmen sind einige private Einrichtungen, die für Normalbürger jedoch nicht erschwinglich sind.
Was wird vor Ort benötigt? Wie geht MSF vor, um den bestehenden Bedürfnissen gerecht zu werden?
In medizinischer Hinsicht fehlt es in Haiti an allem. MSF hat in verschiedenen Orten im Land Allgemeinkliniken und Behandlungszentren eingerichtet: insbesondere ein Cholera-Behandlungszentrum (CTC) in Port-à-Piment, ein Allgemeinkrankenhaus im sehr armen Viertel Martissant, ein Referenzzentrum für geburtshilfliche Notfälle (CRU) in Delmas sowie das chirurgische Zentrum Tabarre, das ausschließlich chirurgische Notfälle traumatischer und nichttraumatischer Art behandelt.
Was waren deine Aufgaben vor Ort?
Das Krankenhaus in Tabarre hat ständig Notdienst und ist rund um die Uhr in Betrieb. Der Zustrom von Patienten, die hier aufgenommen und behandelt werden, ist beeindruckend, sowohl hisnichtlich ihrer Zahl als auch der Komplexität der Verletzungen und Behandlungsfälle. Die 27 Chirurgen und 6 Assistenten haben alle eine hervorragende Ausbildung erhalten (in Haiti, in Kuba, in Venezuela), sie arbeiten völlig selbstständig, sind eine hohe Arbeitsbelastung gewohnt und arbeiten im Geist des Miteinanders und der Solidarität zusammen.
Trotz des hohen technischen Niveaus sind die Ressourcen im Vergleich zu westlichen Ländern immer noch beschränkt.
Abgesehen von einigen besonderen Eingriffen bestand meine Aufgabe bestand also weniger darin, chirurgische Techniken zu lehren. Meine Erfahrung diente eher dazu, Diskussionen über Methodik, Behandlungsansätze und -alternativen sowie über die Machbarkeit und Rechtfertigung bestimmter Verfahren anzustoßen. Trotz des hohen technischen Niveaus sind die Ressourcen im Vergleich zu westlichen Ländern immer noch beschränkt, so dass manche Verfahren unmöglich oder zu teuer bleiben. Ich habe ebenfalls die Wichtigkeit einer gewissenhaften Nachsorge nach Operationen, einer lückenlosen Dokumentierung, einer einwandfreien Rückverfolgbarkeit der aller Behandlungen sowie der Disziplin bei der Überwachung von Behandlungen betonet.
Inwieweit unterscheidet sich Ihr Einsatz von der vorhergehenden Mission in Bili in der Demokratischen Republik Kongo?
In Bili arbeitete ich im Krankenhaus eines Flüchtlingslagers in einer abgelegenen Gegend, wo es weder Infrastruktur noch fließendes Wasser oder Strom gab. Im Krankenhaus arbeiteten nur sehr wenige ausgebildete Mitarbeiter, es gab dort weder Chirurgen noch Frauenärzte bzw. Geburtshelfer. Port-au-Prince hingegen ist eine sehr große Stadt, das Krankenhaus ist den dortigen Standards entsprechend gut ausgestattet, ärztliches Personal und ärztliches Hilfspersonal sind gut ausbildet.
In Bili bestand meine Tätigkeit vor allem in elementarer chirurgischer Arbeit, während ich in Haiti oft mit hochkomplexen Verfahren zu tun hatte. Kurz: zwei Welten, die sich in jeder Hinsicht voneinander unterscheiden, aber gleichermaßen interessant sind.
Was sind Ihre persönlichen Eindrücke?
Ich schätze sehr gelernt zu haben, die Welt anders zu sehen. Ich empfinde sehr großen Respekt und Bewunderung für das Personal vor Ort, das in Bili und in Haiti mit so wenig Mitteln Herausragendes leistet.
Ich empfinde sehr großen Respekt und Bewunderung für das Personal vor Ort, das in Bili und in Haiti mit so wenig Mitteln Herausragendes leistet.
Mir gefiel auch die Arbeit in einem multikulturellen Team. Während meines Aufenthaltes in Haiti umfasste mein Team neben Haitianern Chirurgen aus China, Neuseeland, Mexiko, Kongo, Italien, Deutschland und Luxemburg. Ist man erst einmal vor Ort, wird einem in beeindruckender Weise bewusst, was Universalität bedeutet!