Im Juli und August 2018 haben der international bekannte Fotograf Robin Hammond und Ärzte ohne Grenzen im Flüchtlingslager Kutupalong im Distrikt Cox’s Bazar in Bangladesch einen sechstägigen Workshop veranstaltet. Im Rahmen dieses Workshops unter dem Motto „In my World“, bei dem es um Berichte über persönliche Erlebnisse ging, wurden Rohingya-Flüchtlinge darin bestärkt, mittels der Fotografie ihre eigene Geschichte mit Bezug zur seelischen Gesundheit zu erzählen.
In dieser Fotostory werden Menschen vorgestellt, die wir getroffen haben, und die Geschichten, die sie uns erzählt haben.
Malek und Sofura
Sofura leidet an einer bisher nicht diagnostizierten seelischen Störung. Der Mann ihrer Enkelin, der 20-jährige Malek, und die anderen Familienmitglieder kümmern sich so gut wie möglich um sie. Sie verließen Myanmar am 26. August 2017 und kamen schließlich am 3. September nach Bangladesch. Ihre Flucht begann, als sich das Militär ihrem Dorf näherte und sie die Feuer sahen, die es bei seinem Zug auf ihr Dorf legte.
Es gab immer Phasen, in denen Sofura Familienmitglieder beschimpfte oder tagelang umherwanderte, erklärt Malek. In Rakhine waren die sozialen Verbindungen und die Beziehungen unter den Familienmitgliedern sehr eng und Sofuras Streifzüge kaum problematisch. Es war immer jemand in der Nähe, der sie vor möglichen Gefahren schützen konnte.
Das Leben im Lager ist anders, so Malek. „Hier ist es ziemlich schwierig[, auf sie aufzupassen]. Es gibt hier so viele Fahrzeuge. Sie könnte auf der Straße liegen und von einem Bus getötet werden. Und wenn Leute sagen, sie sei eine Entführerin, könnten sie sie umbringen. In Myanmar gab es weniger Fahrzeuge und die Leute kannten sie.“
Jamil Ahmed
Im September 2017 floh der 26-jährige Jamil vier Tage nach Eid aus seiner Heimat in Myanmar. Wie die anderen Dorfbewohner rannte er davon, als er die von der myanmarischen Armee gezündeten Feuer näherkommen sah. Sie rannten in den Wald und versteckten sich. Als das Militär sie in den Wald flüchten sah, eröffnete es das Feuer. Viele der Dorfbewohner wurden von den Kugeln getroffen und starben. Eine traf Jamil in die Hand, mit der er nun nicht mehr arbeiten kann.
Als die Dorfbewohner sich sicher genug fühlten, das Dorf zu verlassen, begannen sie ihren Marsch nach Bangladesch. Mit der Überquerung der Grenze zu Bangladesch konnten sie der Gewalt und Unterdrückung, der sie in Myanmar ausgesetzt waren, entkommen. Doch die Erinnerungen verfolgen Tausende von Flüchtlingen weiterhin.
„Ich frage mich oft, wann ich nach Myanmar zurückkehren werden kann. Es beunruhigt mich, wenn ich daran denke. Wenn Allah möchte, dass wir zurückkehren, wird das passieren. Wenn nicht, bleiben wir hier.“
Wie viele Rohingya-Flüchtlinge beschreibt Jamil seine psychischen Probleme über die Schilderung körperlicher Symptome. „Wenn ich unruhig bin und nicht in Frieden leben kann, merke ich, wie ich immer dünner werde. Als ich herkam, habe ich Gewicht und meine Energie verloren.“
Er sehnt sich verzweifelt nach seiner Heimat, weiß jedoch, was bei einer Rückkehr passieren würde.
Es beunruhigt mich, wenn ich daran denke, nach Hause zurückzukehren. Wenn ich an mein Zuhause denke, möchte ich am liebsten hinfliegen. Doch wenn ich [jetzt] zurückgehe, wäre das wie Selbstmord. In meinem Herzen fühle ich noch immer die Liebe zu meinem Land. Und eines Tages werde ich ganz sicher zurückkehren.
Jamil Ahmed
Mabia Khatu
Mabia (40) floh im November 2017 aus Myanmar nach Bangladesch. „Mir ging es schlecht in Myanmar. Die Polizei dort schnitt uns die Köpfe ab, verhaftete unsere Kinder und tötete uns.“ Die Gewalt traf ihre Familie direkt: „Eines Morgens erfuhr ich, dass mein Bruder und meine Schwester umgebracht worden waren. Ich ging hin, um nachzusehen. Überall im Haus war Blut.“ Sie waren enthauptet worden.
Jetzt ist sie in Cox’s Bazar: „Ich bin glücklich darüber, in dem Camp zu sein, denn ich kann nachts ohne Probleme schlafen. In Myanmar schliefen wir tagsüber, und nicht in der Nacht, denn nachts konnte immer die Polizei kommen und unsere Nachbarn und Familienmitglieder holen. Ich werde niemals vergessen, was in Myanmar passiert ist. Manchmal kommt es zu mir zurück. Ich bin traurig, wenn ich daran denke, kann nicht schlafen und habe körperliche Schmerzen. Ich bin dann richtig benommen.“
Auch Mabias Kinder haben gelitten: „Ich habe kleine Kinder. Als meine Mutter den Kindern erzählte, dass wie eines Tages nach Burma [Myanmar] zurückkehren werden, sagten sie, dass sie das nicht wollen, weil sie denken, dass das Militär uns töten wird. Sie haben Angst davor, nach Hause zurückzukehren.“
Yasamin Akter
Die fünfjährige Yasamin floh mit ihrer 25 Jahre alten Mutter Fatima Khatun und ihrem vier Monate alten Bruder Tawhid Uddin. Sie verließen ihr Dorf, weil, so Fatima, „das Militär die Menschen folterte.“ Sie erzählt, wie ihr Mann versklavt wurde, die Moscheen und Medresen geschlossen wurden, Menschen nicht heiraten durften und „die hübschen Frauen und Mädchen vor den Augen ihrer Eltern und Brüder vergewaltigt wurden. Ich spüre unsere Unfreiheit seit meinem Jugendalter.“
Die Familie floh, als das Militär begann, Häuser in ihrem Dorf niederzubrennen. Yasamin befand sich noch im Haus, als das Feuer zu ihnen kam. Fatima eilte zu ihr, als sie sie schreien hörte. Es gelang ihr, sie vor den Flammen zu retten, doch das Kind erlitt schwere Verbrennungen am Bein und am Po. Sie haben sich in dem Flüchtlingscamp in Bangladesch niedergelassen, aber das Leben dort ist nicht leicht
Hier können wir nicht Ruhe und Frieden finden, weil wir nicht auf unserem eigenen Boden leben, unsere Leute nicht hier sind und hier nicht unser Land ist.
Fatima Khatun
Fatima quält der Verlust, den sie erlitten haben. In einer Kultur, in der Frauen heiraten müssen, macht ihr vor allem die schwierige Zukunft ihrer Tochter Sorgen: „Vor ein paar Tagen dachte ich darüber nach, was passiert ist, und ich verlor fast die Besinnung. Sie haben ihr Leben zerstört — wenn sie ein Junge wäre, würde ich damit klarkommen, aber wenn einem Mädchen so etwas passiert, ist ihr Leben zerstört. Wir haben kein Geld oder Land und müssen unsere Tochter irgendwie verheiraten.“
Asmot Ulla
„Die Regierung von Myanmar hat vor unseren Augen Menschen getötet. Wir kamen hierher, um unser Leben zu retten”, erzählt der 23-jährige Asmot, der am 25. August 2017 aus seiner Heimat in Rakhine floh.
Er berichtet von der Nacht, in der der Angriff stattfand: „Die Regierung von Myanmar ließ unser Dorf umstellen und begann zu schießen.“ Als die Dorfbewohner wegrannten, richteten die Soldaten ihre Maschinengewehre auf die Fliehenden: „Mein Bruder wurde vor meinen Augen von der myanmarischen Regierung erschossen … wir rannten gemeinsam. Er war hinter mir. Ihm wurde in den Bauch geschossen. Er fiel. Mich traf ein Schuss in den Oberschenkel und ich fiel auch. Auf dem Boden liegend sah ich, dass mein Bruder tot war. Dann nahm mich jemand auf seinen Schultern mit in den Dschungel.“
Sieben Tage lang versteckte sich eine Gruppe Dorfbewohner ohne Nahrung und Unterschlupf mitten im Dschungel. Durch Regen und Schlamm schafften sie es schließlich nach Bangladesch. „Ich vermisse meinen Bruder sehr, die ganze Zeit“, so Asmot. „Ich denke viel an ihn und es macht mich sehr traurig. Meine Gedanken sind Tag und Nacht bei meinem Bruder. Wenn ich an ihn denke, bin ich bedrückt und unruhig. Manchmal erinnere ich mich in meinen Träumen an das, was in Myanmar passiert ist.“
Jahangir und Badarul
Der 15-jährige Jahangir mit seinem 50 Jahre alten Onkel Badarul Hoque. Badarul leidet an einer nicht diagnostizierten psychischen Störung und ist auf die Unterstützung der Familie angewiesen. Sie kamen einen Tag vor Eid nach Bangladesch.
„Die Leute vom Militär folterten und töteten. Deswegen sind wir hierhergekommen“, erzählt der 15 Jahre alte Jahangir. „Ich habe es [das Morden] nicht selbst gesehen, aber Körperteile im Fluss: Köpfe, Hände, Beine.“ Jahangir berichtet, dass seine Gemeinschaft von den Gewalttaten in der Nähe wusste und daher zusammenkam, um gemeinsam nach Bangladesch zu gehen. Sein Vater wollte nicht los, ohne vorher nach seiner Schwester zu sehen, die in einem anderen Dorf war. Er machte sich auf den Weg und kam nie zurück. „Ich weiß noch immer nicht, wo mein Vater ist, ob er lebt oder tot ist.“
Es war immer so, dass sich die gesamte Familie um Badarul kümmerte, doch nach dem Verschwinden seines Vaters liegt nun die größte Verantwortung bei Jahangir. Er beschreibt den Zustand seines Onkels: „Manchmal schreit mein Onkel nachts sehr viel. Sein Zustand war vorher ein wenig besser, es wurde aber schlimmer, als wir hierher [in das Camp] kamen. Sein Zustand verschlechterte sich, weil er Schüsse und Bombenexplosionen hörte.“
Das Leben im Camp ist schwer. Man kümmert sich hier um die unmittelbaren alltäglichen Bedürfnisse, doch das Leiden geht weiter. Wen man Jahangir fragt, was er macht, damit es ihm selbst besser geht, erhält man eine verzweifelte Antwort:
Wie sollte es uns gut gehen? Wir haben unser Land verlassen. Wir haben unser Haus verlassen. Jetzt leben wir in kleinen Zelten. Wenn man hier lebt, gibt es nichts, was man tun kann, damit es einem wirklich gut geht. Wenn meine Familie an die Geschehnisse in Myanmar zurückdenkt, möchte sie nicht dahin zurückkehren. Doch wenn sie die kleinen Zelte sehen, in denen wir hier leben, möchten sie zurück. Was sollen wir hier tun ... wir können gar nichts machen.
Jahangir
Mohammad und Osman Yunis
Mohammad und sein sechs Jahre alter Sohn Osman kamen Ende 2017 nach Bangladesch. „Wir sind hergekommen, weil die Mog [abwertende Bezeichnung für lokale Rakhine-Buddhisten] Menschen erschossen und verbrannt haben. Mein Onkel und zwei Cousins wurden vor meinen Augen angeschossen und getötet.“ Mohammad erzählt auch, wie er mit ansehen musste, wie seine Eltern zusammengeschlagen wurden.
Das Trauma der Gewalt und die Situation, als Flüchtling zu leben, haben ihren Tribut gefordert: „Mir geht es hier nicht gut. Ich habe meinen Kopf nicht mehr unter Kontrolle.“ Mohammad beschreibt auch die körperlichen Anzeichen seiner seelischen Probleme: „Ich war eigentlich immer dicker. Jetzt werde ich angesichts der Gedanken daran, was passiert ist, mit jedem Tag dünner.“ Er suchte Hilfe bei Ärzte ohne Grenze: „Ich konnte nicht schlafen, zog durch die Gegend und schlug Menschen. Deswegen fing ich an, Medikamente zu nehmen, und sie helfen mir.“
Mohammad vergleicht das Leben im Camp mit seinem Leben in Myanmar: „Ich möchte nicht im Camp leben, es ist kein gutes Umfeld. Wir hatten gutes Land, ein gutes Haus. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich zurückkehren könnte. Doch die Myanmaren haben mein Land und mein Haus abgebrannt.“
Noor Alom
Noor Alom (70) war vor seiner Flucht am 30. August 2017 Reisbauer in Myanmar. Er erzählt von dem Anschlag auf sein Dorf.
Menschen wurden verbrannt. Sie verbrannten sie in ihren eigenen Häusern. Die Menschen in meinem Dorf rannten los, also rannte ich auch.
Noor Alom
Keines der sechs Mitglieder seiner Familie erlitt körperliche Schäden, doch der Angriff hat – zusammen mit dem Verlust seines gesamten Hab und Guts und seiner Einkommensquelle sowie der neuen Identität als Flüchtling – tiefe Spuren hinterlassen. „Als ich hierherkam, begannen die Schmerzen in meinem Kopf“, erzählt Noor Alom und beschreibt damit, was Ärzte im Allgemeinen als körperliche Symptome psychischer Erkrankungen diagnostizieren.
„Ich war glücklich mit meiner Familie [in Myanmar]. Jetzt kann ich sie nicht unterstützen und mich nicht frei bewegen, und es gibt nichts, worüber wir uns freuen. Wenn wir zuhause wären, würden wir [das muslimische Fest] Eid feiern. Hier jedoch können wir das nicht machen. Wir sitzen nur und warten.“
Rohima Khatum
„Wir sind hierher nach Bangladesch gekommen, weil die Mog uns peinigten und folterten. Sie sagten zu uns, dass wir kein Recht hätten, in Myanmar zu bleiben und zurück nach Bangladesch gehen sollen“, erzählt Rohima, eine 25 Jahre alte Rohingya, die aus ihrem Dorf in Rakhine floh und im September 2017 nach Bangladesch kam.
„Erst hatte das Militär eine Versammlung einberufen. Sie sagten uns, dass diejenigen, die in ihren Häusern bleiben, geduldet werden, dass aber Menschen, die von Ort zu Ort ziehen, verhaftet werden. Um 4 Uhr am nächsten Morgen kamen sie zurück und umstellten das Dorf. Sie trennten Männer und Frauen voneinander. Sie legten den Männern Handschellen an und begannen, die jungen Mädchen zu vergewaltigen. Die Männer und Kinder schrien. Und sie begannen, auf sie einzuschlagen.“
Die Häuser wurden in Brand gesetzt. Männer des Militärs wollten Rohima vergewaltigen, doch als sie sahen, dass sie im siebten Monat schwanger war und ein vier Jahre altes Kind bei sich hatte, ließen sie von ihr ab. Das Kind hatte schreckliche Angst und begann zu schreien.
Mein vierjähriges Kind weinte und schrie. Deswegen nahmen sie es mir weg und warfen es ins Feuer. Sie haben auch meinen Mann vor meinen Augen auf dem Hof unseres Hauses erschossen.
Rohima Khatum
Ein Jahr später spricht sie über ihr Leben: „Ich denke ständig daran und bin so traurig, weil ich meine Nachbarn, meinen Mann, mein Kind und meine Verwandten verloren habe.“
Seit August 2017 hat Ärzte ohne Grenzen zur psychologischen Versorgung mehr als 16 000 Einzelbehandlungen und 18 000 Gruppentherapiesitzungen mit Rohingya-Flüchtlingen, die im Distrikt Cox’s Bazar in Bangladesch leben, durchgeführt.
Alle Gesundheitseinrichtungen von MSF bieten Versorgungsleistungen im Bereich der seelischen Gesundheit und in allen stationären Einrichtungen und einigen Zentren für eine Basisgesundheitsversorgung stehen sowohl psychologische als auch psychiatrische Dienste zur Verfügung.
Flüchtlinge erleben Flashbacks, eine generalisierte Angststörung, Panikattacken, wiederkehrende Albträume und Schlafstörungen und leiden an Krankheiten wie posttraumatischen Belastungsstörungen und schwerer Depression. Zudem sieht MSF sowohl in den Flüchtlings- als auch in den Aufnahmegemeinschaften chronische psychische Leiden und Bedarf an psychiatrischer Betreuung.
Ärzte ohne Grenzen ist eine der sehr wenigen Organisationen, die solche Versorgungsleistungen für Rohingya-Patienten wie auch für aus Bangladesch stammende Patienten im Distrikt Cox’s Bazar erbringt. Die begrenzte Verfügbarkeit von Diensten in dieser Region, die Versorgungsleistungen im Bereich der seelischen Gesundheit bieten, insbesondere eine fortschrittlichere und weitergehende psychologische Betreuung, einschließlich der psychiatrischen Betreuung, bleibt weiterhin besorgniserregend.
Titelfoto: Bangladesch, August 2018. © Robin Hammond